Manchmal sind es die kleinen Momente während einer Krebserkrankung, die so viel Bedeutung haben. Für diejenigen, die diese Erfahrung machen, sind es oft die unerwarteten Begegnungen, die den größten Einfluss haben. Ein solcher Moment kann helfen, eine neue Perspektive zu gewinnen und sich selbst neu zu akzeptieren.
»Ich muss gestehen: Meine Haare haben mir schon immer unendlich viel bedeutet. Meine Haare gehörten einfach schon immer zu mir – zu meinem Bild von mir selbst. Ich wäre niemals auch nur auf die Idee gekommen eine Glatze zu tragen.
Nach meiner Krebsdiagnose im Jahr 2023 wusste ich, dass sich das bald ändern würde. Allein der Gedanke, meine Haare zu verlieren, machte mir Angst. Ich hatte das Gefühl, meine Haare definierten mich – machten mich liebenswert. Ohne sie, so dachte ich, wäre ich nicht mehr schön. Diese Vorstellung belastete mich sehr.
Nach dem zweiten Chemo-Zyklus begannen meine Haare auszufallen – büschelweise. Es war schrecklich. Ich sah es jeden Tag im Spiegel und fühlte mich hilflos. Ich konnte mich aber nicht dazu durchringen, sie abzurasieren. Ich wollte mich nicht von ihnen trennen und klammerte mich an jeden einzelnen Strohhalm. Es war, als würde ich einen Teil von mir selbst verlieren. Erst fünf Monate später, als fast nichts mehr übrig war, fasste ich Mut zum Rasierer.
Als ich mich im Spiegel sah und entschied, meine Haare abzurasieren, war das ein Wendepunkt. Es fühlte sich an, als würde ich einen Teil meiner Vergangenheit loslassen und mich auf eine neue Realität einlassen. Es war ein schmerzhafter Schritt, aber auch ein befreiender. Plötzlich fühlte ich mich leichter, als hätte ich eine Last abgeworfen.
Trotzdem blieb die Angst, was andere zu meiner Glatze sagen und wie sie mich ansehen würden.
Ich habe zwei kleine Geschwister: Amalie und Lilie. Nachdem ich die Chemotherapie abgeschlossen hatte, besuchte ich sie. Meine Haare waren zu diesem Zeitpunkt höchstens einen halben Zentimeter lang – Stoppeln eben. Ich war unsicher, wie sie reagieren würden.
Wir saßen auf dem Boden und ich alberte mit Amalie herum. Sie lachte und spielte, ohne auch nur einen Moment innezuhalten. Plötzlich lief Lilie zum Waschbecken, machte ihre Hände nass und begann, meine Haare zu ›frisieren‹. Danach sagte sie ganz selbstverständlich: ›So, jetzt sieht's besser aus‹.
In diesem Augenblick ging mir das Herz auf. Für die beiden war ich nicht ›die kranke Vivi‹, die ihre Haare wegen des Krebses verloren hatte. Ich war einfach Vivi. Ihre Vivi, die sie liebten und mit der sie Quatsch machen konnten. Meine Glatze machte für sie keinen Unterschied. Sie sahen mich, nicht meine Haare.
Diese Erinnerung werde ich für immer in meinem Herzen tragen – eine Erfahrung, die mich etwas Wichtiges gelehrt hat. Meine Geschwister sind noch so klein und sehen die Welt mit einer Unschuld und Offenheit, die mich immer wieder beeindruckt. Durch sie habe ich gelernt, dass ich, egal was ich durchmache und wie ich aussehe, immer Vivi bleibe. Ich behalte meinen Wert und werde dafür geliebt, wer ich bin – für das, was mich als Mensch ausmacht. Es war eine Befreiung zu erkennen, dass meine Haare mein Selbstwertgefühl nicht definieren.
Sie überraschten mich immer wieder aufs Neue. Es war so süß zu sehen, wie sich ihre Wahrnehmung veränderte. Kurz nach der Rasur fragte Amalie: ›Vivi hat keine Haare mehr?‹ Dann wurde daraus: ›Vivi hat kurze Haare‹. Und heute fragt sie: ›Vivi, hast du jetzt Locken?‹ Sie nahm mich immer so an wie ich war – ohne Vorurteile.
Doch das Wertvollste war das Gefühl, das mir die Kinder gaben. Ich durfte und darf ihre Liebe spüren – und die Gewissheit, dass ich auch ohne meine Haare schön bin. Diese Erkenntnis war eine der wichtigsten in dieser Zeit und für meine persönliche Entwicklung. Sie hat mir geholfen, mich selbst neu zu entdecken und meine Prioritäten neu zu setzen.
Jeder Zentimeter, den meine Haare jetzt wachsen, erinnert mich daran, dass ich die Chemotherapie erfolgreich überstanden habe. Sie sind ein Symbol für Stärke und dafür, dass das Leben weitergeht. Mehr noch: Sie zeigen mir, dass ich nicht nur überlebt, sondern auch gelernt habe, mich selbst zu lieben – unabhängig von meinem Aussehen.
Die Zeit mit meinen kleinen Schwestern berührt mein Herz noch immer zutiefst. Auch fast ein Jahr später bekomme ich Tränen in den Augen, wenn ich daran denke. Sie haben mir gezeigt, was im Leben wirklich zählt: die Liebe und die Akzeptanz der Menschen, die uns am meisten bedeuten.«