»Ich heiße Cosimo, bin 30 Jahre alt und wohne im Westerwald. Meine Krebsdiagnose habe ich vor drei Jahren mit 27 bekommen, also mitten in der Pandemie. Schon im März 2020 hatte ich den Tumor in meinem Hoden ertastet, doch bis zur Diagnose dauerte es noch drei weitere Monate. Ich bin zunächst zu meinem Hausarzt gegangen, der von einem Infekt ausging und mir zunächst nur Ibuprofen verschrieben hat. Nachdem die Schmerzen nicht besser wurden, hat er mich an einen Urologen überwiesen. Der hat mich nur abgetastet und Antibiotika verschrieben. Als es mir immer noch nicht besser ging, sollte ein Ultraschall gemacht werden. Pandemiebedingt habe ich allerdings erst für Ende Juni einen Termin bekommen. Beim Ultraschall war sofort klar: Das ist Krebs. Der betroffene Hoden war schon komplett zerfressen und vom Gewebe ziemlich viel abgestorben. Die finale Diagnose lautete: Hodenkrebs im Stadium II B mit Lymphknotenbefall im hinteren Bauchraum.«
»Heftig. Vorher war ich Big Data Engineer und hatte gerade einen berufsbegleitenden Master begonnen. In meinem Leben war ich sehr auf Beruf und Karriere bedacht. Als ich die Diagnose bekam, steckte ich mitten in der Klausurenphase. Sowohl Beruf als auch Studium habe ich erstmal auf Eis gelegt und die Therapie durchgezogen. Ich würde schon sagen, dass ich im Nachhinein mein Leben umgekrempelt habe. Den Master habe ich abgebrochen. Nicht wegen der Noten, sondern weil ich unzufrieden mit den Inhalten war. Ich habe mir gedacht: ›Damit willst du deine Lebenszeit nicht verschwenden.‹ Ich mache inzwischen zwar weiterhin Karriere, aber in einem langsameren Tempo. Mir sind jetzt auch andere Themen wichtig: Haus, Familie, Partnerschaft. Der Fokus ist ein ganz anderer als früher.«
»Vorher war ich schon stolz auf meine Haare. Mir ist aber natürlich klar gewesen, dass der Haarausfall während der Chemotherapie kommen wird. Die Therapie dauerte bei mir neun Wochen, und ich habe mir gesagt, dass ich die Zeit schon rumkriegen werde. Während der Chemo fand ich den Haarverlust auch gar nicht so schlimm. Wenn ich herumgelaufen bin, hat mich allerdings jeder direkt angestarrt. Weil eben nicht nur die Kopfhaare gefehlt haben, was bei Männern ja nicht untypisch ist, sondern auch die Augenbrauen und der Bart. Dass man so mitleidig angeschaut wird, hat mich gestört. Leider sind meine Haare nach der Therapie nicht mehr so wiedergekommen wie früher. Nur noch ein Bruchteil der Haare sind auf natürlichem Weg wieder gewachsen. Das hat mich sehr belastet. Eine Transplantation kam für mich aber nicht infrage, weil ich keine Lust auf noch eine Operation hatte. Mein Barbier hat mich dann auf Haarsysteme aufmerksam gemacht, die ich seitdem nutze. Damit bin ich bis jetzt sehr zufrieden und kann wieder so leben wie vorher. Diese Entscheidung habe ich nicht aus Eitelkeit getroffen, sondern weil ich keine Lust mehr darauf hatte, täglich in den Spiegel zu schauen und an meine Krankheit und Therapiezeit erinnert zu werden. Denn die sind schließlich schuld an meinem veränderten Haarwachstum. Und selbst gesunde Männer haben ja mit einem altersbedingten oder genetischen Haarausfall ihre Schwierigkeiten. Sonst würde es die ganzen Angebote für Haartransplantationen wohl nicht geben.«
»Ich habe zwei Narben: eine durch den Port und die andere durch die Hauptoperation, bei welchem der eine Hoden entfernt wurde. Beide Narben verursachen manchmal Schmerzen. Außerdem leide ich an Polyneuropathie, einem Tinnitus, chronischer Fatigue und habe auf einem Auge einen grauen Fleck - durch das viele Cortison. Der geht auch nicht mehr weg, aber das Gehirn lernt irgendwann, das zu ignorieren. Einerseits nerven diese Veränderungen, aber andererseits ist alles besser als der Zettel am Zeh. Außerdem ist mein Hormonhaushalt total gestört, weil eben ein kompletter Hoden fehlt. In der Regel müsste der Resthoden in der Lage sein, das Defizit auszugleichen, aber das funktioniert bei mir nicht. Ich muss nun mein Leben lang Testosteron substituieren. Ein Mangel kann nämlich unter anderem zu einer erektilen Dysfunktion, Depression, Gewichtsänderungen und Fatigue führen. Ich habe mir auch ein Hodenimplantat einsetzen lassen, damit ich mich wieder als Ganzes sehe. Darauf werde ich oft angesprochen und gefragt, warum ich das habe machen lassen. Ob ich mich sonst weniger als Mann fühlen würde. Auch Ärzte haben schon versucht, mir das schlecht zu reden und gemeint, das fühle sich doch gar nicht echt an. Ich verstehe bis heute nicht, warum ich mich dafür so viel rechtfertigen muss.«
»Eine der ersten Fragen an meinen Urologen nach der Aufklärung über meine Krebserkrankung und die Folgen der Therapie war: ›Kann man da irgendwas einsetzen?‹ ****Er war damit sichtlich überfordert und hatte nur Halbwissen. Auch zum Thema Kostenübernahme wusste er nichts. In der Klinik hat man mir dann gesagt, dass ein Einsetzen entweder direkt während der Hauptoperation oder nach Ende der Therapie möglich sei. Bei der zweiten Option müsse ich das jedoch selbst bezahlen. Gegen die erste Option würde wiederum sprechen, dass das Risiko einer Verkapselung oder Infektion höher sei - die Krankenkasse würde aber die Kosten übernehmen. Durch spätere Recherche weiß ich, dass das so nicht stimmt. Ich habe mich letztendlich für die erste Option entschieden und wurde sehr ausführlich über mögliche Risiken aufgeklärt. Im Vergleich zur Aufklärung über die Chemotherapie hat das sogar noch länger gedauert. Ich hatte schon das Gefühl, dass man mir das ausreden will. Bei einer Frau fragt wahrscheinlich niemand, warum sie Brustimplantate haben will. Aber bei einem Mann, der ein Hodenimplantat möchte, sind es umso mehr. Ich finde, da wird ziemlich stark mit zweierlei Maß gemessen.«
»Ich finde sehr schade, dass bei der Nachsorge diesbezüglich nicht einmal nachgefragt wird, obwohl das in den Leitlinien steht. Mittlerweile habe ich auch meinen Ärzten gesagt, dass das mit dazu gehört. Man schnippelt immerhin ein Sexualorgan heraus und macht sich dann aber keinerlei Gedanken um die Sexualität des Patienten. Das geht so nicht. Ich habe nun den Vorteil, dass ich sehr offen mit dem Thema umgehe. Aber andere Männer haben mehr Angst und Scham, so etwas anzusprechen und leiden dann im Stillen. Mein Appell an alle Ärzte lautet daher: Nehmt das Thema mit in die Nachsorgegespräche auf! Abgesehen davon bin ich nach der überstandenen Chemo davon ausgegangen, es würde nun wieder aufwärts gehen. Ich habe viel Sport gemacht und trainiert. Die Ergebnisse wurden jedoch immer schlechter. Auch sexuell hat nichts mehr funktioniert. Ich litt unter einer erektilen Dysfunktion. Von vielen habe ich gehört: ›Gib deinem Körper mehr Zeit, der muss sich erholen‹. Da habe ich mich nicht ernst genommen gefühlt. Schließlich war ein Mangel an Testosteron die Ursache für die Beschwerden. Als der Wert zum ersten Mal von meinem Urologen gemessen wurde, lag er unter eins. Das ist eigentlich ein normaler Wert bei Kleinkindern. Und es hätte schon viel früher auffallen können, wenn sich mein Arzt an die aktuelle Leitlinie gehalten hätte. Die sieht eine Überprüfung des Testosteronwerts nämlich vor. Der Mangel konnte jedenfalls ausgeglichen werden. Seitdem funktioniert auch alles wieder und ich habe ein erfülltes Sexleben. Natürlich kann eine Störung in dem Bereich auch psychische Gründe haben oder durch Operationsnarben im Bauchraum bedingt sein. Den Mangel an Testosteron als Ursache haben viele meines Wissens aber nicht auf dem Schirm.«
»Da gibt es wohl keine Pauschalantwort. Ein Riesenthema ist auf jeden Fall männliche Toxizität. Ich bin selbst aktiv bei PATE, einem Verein für Hodenkrebsbetroffene, und leite eine der Selbsthilfegruppen. Da muss ich manchmal einschreiten, wenn sich unter den Patienten ein Konkurrenzkampf entwickelt, wer die Therapie am besten vertragen hat und am wenigsten unter Nebenwirkungen leidet. Denn das bietet keinen Raum mehr für diejenigen, die enorm mit Nebenwirkungen zu kämpfen hatten oder haben. Aber auch hier zeigt sich, dass Männer oft den Starken spielen wollen. Frauen sind da anders sozialisiert, auch im Hinblick auf Gesundheit. Während Männer häufig zuletzt als Jugendliche untersucht wurden, gehen Frauen regelmäßig zum Frauenarzt. Dadurch wird es zu etwas Normalen, sich aktiv mit dem eigenen Körper zu beschäftigen, auch wenn man nicht krank ist. Männer hingegen sollen erst mit 45 Jahren zur Prostatakrebsvorsorge. Dazwischen findet überhaupt keine ärztliche Untersuchung statt. Es fällt vielen schwer, offen über die eigene Gesundheit zu reden, weil die Übung darin fehlt. Oft wollen Männer auch alles mit sich selbst ausmachen. Wir haben beispielsweise Ehefrauen, die in die Selbsthilfegruppe kommen, weil ihre Männer nicht wollen und nicht einmal mit der eigenen Frau darüber reden, wie es ihnen geht. Die Frauen wissen wiederum nicht, wie sie mit ihrem Mann umgehen sollen. Das ist schwierig, und zwar für alle.«
»Das Thema Männergesundheit ist inzwischen immer mehr in den Medien, und das finde ich richtig. Es gibt auch die Gesellschaft ›Check dich selbst‹, die in Stadien geht, um mehr Aufklärung zu betreiben. Wir mit PATE gehen in Schulen und klären auf. Ich fände es wichtig, dass eine regelmäßige Untersuchung bei Andrologen angeboten wird, deren Kosten die Krankenkasse übernimmt. Dann wäre für Männer der Weg zur Krebsvorsorge ab einem bestimmten Alter auch keine so große Herausforderung mehr. Generell ist bei Männern mehr Aufklärung im Bereich Gesundheit wichtig und notwendig. Viele wissen nicht einmal über HPV Bescheid und dass eine sexuell übertragene Infektion Krebs auslösen kann. Oder dass es auch für Männer eine Impfung gibt. Das ist also kein Thema, was bloß Frauen betrifft. Aber da sieht man mal, wie groß die Wissenslücken sind.«
Danke für dieses aufschlussreiche Gespräch!
Falls auch du die Diagnose Hodenkrebs erhalten hast und dir einen Austausch mit Gleichgesinnten wünscht, schau doch mal bei PATE e.V. vorbei: https://www.pate-hodenkrebs.de/. Du kannst auch gleich eine E-Mail mit deinen Fragen und Anliegen an: selbsthilfe@pate-hodenkrebs.de schicken. Oder möchtest du wissen, wie man seine Hoden richtig abtastet? Check-dich-selbst hat hier eine Anleitung parat: https://checkdichselbst.de/hodenkrebs.html.